"DARF ICH SIE STÖREN?"
Das sagt eine Stimme, die mich aus dem tiefsten Tief meines Buches holt. Ich sitze am Bahnhof und den Lärm um mich herum, habe ich ausgeblendet. Der Bahnhof wird renoviert, was auch wirklich an der Zeit war. Es gibt schönere Bahnhöfe als Essen. Jetzt wird überall gebohrt und geklopft. Essens Bahnhof ist eine riesige Baustelle. Die Züge fahren wo und wann wie wollen. Überall sind Hinweisschilder. Doch es ist verwirrend, was bei der Bahn ja nicht ungewöhnlich ist. Nach über 30 Jahren Bahn fahren, habe ich schon so manches erlebt. Von den Verspätungen im Herbst und Winter will ich gar nicht sprechen... so gehen meine Gedanken an vergangene Zeiten und ich bemühe mich meine Aufmerksamkeit wieder meinem Buch zu widmen. Die Bank auf der ich sitze, wurde provisorisch an den Rand der eingezäunten, lärmenden Arbeiter gestellt. Der Hitze wegen, nehme ich an. Manche Menschen können diese Hitze nicht vertragen und müssen sich ausruhen. Die letzten Wochen hatten wir nur Stehplätze. Dann wieder ein: "Hallo!"
Eigentlich nicht ungewöhnlich, dass man mich anspricht. Nein, ich trage kein Schild auf dem steht: "Auskunft der DB AG!" Doch gerade in der Umbauphase passiert es mir fast täglich.
Etwa so:
"Wissen Sie wo der Zug von da nach dort fährt."
"Hier ist ja nirgends eine Auskunft"
"Auf welchem Bahnsteig müsste ich wohl, wenn ich diese oder jene S-Bahn erwischen möchte?" "Wissen Sie, welcher Zug nach Düsseldorf fährt und wissen Sie auch, um wie viel Uhr?"
"Wo kann ich meine Fahrkarte abstempeln?"
Die berühmte Frage:
"HABEN SIE MAL ´NEN EURO?"
darf auch nicht fehlen.
Heute wollte ich keine Fragen beantworten, heute wollte ich lesen
und ich versuche die Stimme zu ignorieren.
Doch diese Frau ist hartnäckig. Die Stimme ist angenehm und ich werde meinem Vorsatz
untreu.
Langsam rolle ich beide Augenpaare aus dem Buch und schaue in ein nettes rundes, jugendliches Gesicht.
Die Dame ist so ca. 70 Jahre, trägt lockere, helle Baumwollpluderhosen und ein weites Leinen-Hemd
Sie lächelt mich an und fragt noch einmal.
"Entschuldigung, darf ich sie mal stören, ich sehe sie lesen aber..." "Natürlich", sage ich "was gibt es denn?" und ich lächle.
"Ihre Kette, die ist soo schön, was ist das für ein Stein?"
In meinem Buch bin ich gerade an der Küste von Australien und ich stammle ...
"Wasser... das wächst irgendwo im Wasser...!" Da merke ich, das ich noch nicht wieder in diese Welt zurück gekommen bin. Und sage:
"Moment, ich komm gleich drauf...
KORALLE... !"sprudelt es aus mir heraus als wäre es das Wasser, aus dem Meer, meines Buches.
Wir lachen beide. Ja Koralle, dass hätte sie nicht gedacht, so hübsch, sie hätte auch... dann folgt ein schwall von Worten, Sätzen, nein Sie redet wie ein Buch. In genau solch schillernden Farben.
Wer weiß wo Sie die ganzen Worte gebunkert hat. Auf alle Fälle schafft Sie es, mich genau so zu fesseln, wie es vorher mein Buch getan hat. Nicht nur Ihre Worte haben tiefe und sind so bunt wie mein letztes Bild, nein, auch ihre Augen. Diese Augen eines Engels. Ich sage Ihr: Sie haben eine wunderschöne,
UNGLAUBLICH strahlende Augenfarbe. Darauf Sie, und Sie könnten meine Tochter sein. Wie immer das zusammen passt. Ich freue mich darüber und habe ein Gefühl von Vertrautheit.
Wieder lachen wir. Dann erzählt Sie mir, dass sie zum Schwimmen nach Duisburg fährt,
dort hat sie eine tolle einsame Stelle, an der Sechs-Seen-Platte.(Ich habe ein bisschen Angst um die alte, Jugendliche Dame, sage aber nichts.) Es ist dort so schön, wie im Urlaub und bei dieser Hitze, die beste Abkühlung.
Da kommt ihr Zug und Sie steigt ein.
Wir winken uns zu, wie gute Freundinnen.
Ich habe noch etwas Zeit bis meine Bahn kommt und versinke wieder in meinem Buch.
Bahn fahren ist nicht nur, um von A nach B zu kommen.
Bahnfahren ist geschenkte Zeit für ein Buch und Freundschaften zwischen zwei Zügen.